Der Kaffee zum Mitnehmen gilt als eine der großen Umweltsünden des Alltags. Über ein Feindbild mit Symbolkraft und die Frage: Wie wird man das Papp-Ding wieder los? Am Montag dieser Woche, kurz nach 15 Uhr, reißt der Barista die siebte Packung Becher auf. Zum siebten Mal stellt er 25 braun-weiße Becher aus kunststoffbeschichtetem Papier auf die Kaffeemaschine. Und auch heute wird er bis zum Abend noch eine achte Packung brauchen. Knapp zweihundert Becher, die im Idealfall im Mülleimer landen – ein normaler Werktag. Und zwar nicht in einer Bahnhofsbäckerei, in der gestresste Pendler sich schnell einen Cappuccino für den Zug holen. Sondern in der Cafeteria der SZ.
In einem Haus, in dem es auf jedem Stockwerk eine Teeküche voller Tassen gibt, verbrauchen wir 50 000 Einwegbecher im Jahr. Weil man damit nach dem Mittagessen noch entspannt eine Runde ums Haus spazieren kann, weil oben im Büro ein Rückruf wartet und dort eh schon drei benutzte Tassen stehen.
Die Frage ist: Wenn nicht einmal wir das hinbekommen, ein Haus voller angeblich gut informierter Menschen, die sich beruflich mit den Problemen der Welt befassen – wie soll dann ganz Deutschland, ganz Europa, ja die ganze Welt den Wegwerfbecher überwinden?
In einer Umfrage aus dem Jahr 2014 sagten 95 Prozent der Europäer, es sei ihnen wichtig, die Umwelt zu schützen. Trotzdem tut es kaum einer. Am Montagvormittag, der SZ-Barista hatte gerade die dritte Packung Becher geöffnet, veröffentlichte die EU-Kommission in Brüssel eine Richtlinie. Sie enthält Vorschläge, wie die Länder die Menge an Einwegplastik reduzieren können: Strohhalme, Plastikbesteck oder Wattestäbchen sollen verboten, Einwegbecher reduziert werden. Wo es geht, sollen Mehrwegalternativen sie ersetzen.
Denn der Müll wird in unserer aufgeklärten Gegenwart nicht etwa weniger, wie man meinen könnte, sondern mehr. Die Erklärung ist naheliegend: mehr Amazon-Päckchen, mehr Flexibilität in der Arbeitswelt, mehr Pendler, mehr Single-Haushalte. Und gerade wir recyclingstolzen Deutschen stehen bei der Menge an Verpackungsabfall europaweit besonders schlecht da, wir verbrauchen 20 Prozent mehr als der Rest. Allein in Deutschland hat sich die Zahl der Einwegbecher seit der Jahrtausendwende mehr als verdreifacht. Auf heute fast drei Milliarden im Jahr. Die leeren Becher wiegen mehr als 110 000 Tonnen, so viel wie zehn Eiffeltürme. Die jährlich entsorgten Plastiktüten der Deutschen sind 15 000 Tonnen leichter.
Und weil die vielen Becher die Mülleimer an Bahnhöfen und in Parks schneller verstopfen, als die Stadtreinigung sie leeren kann, landet ein Großteil irgendwo in der Landschaft. Kein Wunder, dass seit ein, zwei Jahren überall Kampagnen gegen den Becher gestartet werden: Er ist ein nicht zu übersehendes Problem.
Die Stadt München hat kürzlich Plakate an ihre Müllwagen geklebt, auf denen ein bärtiger Mann darauf hinweist: „München hat’s satt“. Im Herbst stellte der städtische Abfallwirtschaftsbetrieb mehrere vier Meter hohe Coffee-to-go-Becher auf öffentliche Plätze: Das Fassungsvermögen entsprach jeweils 190 000 Bechern. So viele verbrauchen die Münchner jeden Tag. Dazu untersagt die Stadt den Pächtern ihrer eigenen Cafeterias neuerdings, Einwegbecher auszugeben, und wirbt für den wiederverwendbaren „Recup“.
Andere Städte entwickeln Pfandsysteme namens „Freiburg-Cup“, „Hannoccino“ oder „Bambecher“. Gleichzeitig werden die Rechenbeispiele immer dramatischer: Stapelte man alle Kaffeebecher eines Jahres, rechnet die Deutsche Umwelthilfe vor, entstünde ein Turm fast bis zum Mond. Und dieses Monstrum aus Müll gilt es nun, mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Wer sich allerdings auf die Suche nach geeigneten Waffen macht, landet bei einer ganz anderen Frage: Ist dieser Alarm nicht ziemlich übertrieben – und der Pappbecher am Ende vor allem ein Feindbild mit hoher Symbolkraft? Schließlich war der Pappbecher doch eben noch ein irgendwie lässiges Accessoire der urbanen Freiheit.
Die meisten Becher aus nassfestem Papier bestehen aus elf Gramm Pappe, abgedichtet mit einer dünnen Schicht Polyethylen. Die drei Milliarden Stück, die die Deutschen jährlich verbrauchen, bilden gerade mal 0,6 Prozent des Verpackungsmülls hierzulande. Das dafür verwendete Papier (ein immerhin nachwachsender Rohstoff) entspricht einem Promille des Papierverbrauchs, die Deckel weniger als 1,8 Prozent der Gesamtmenge an Polystyrol. Jeder wiederbefüllbare „Bambecher“ dagegen muss gespült werden. Entweder mit viel Wasser von Hand oder in einer stromfressenden Spülmaschine, was die Zeit kürzlich zu der Überlegung führte, es handle sich beim Hype um die Mehrwegbecher möglicherweise um eine „optische Täuschung“: Der sichtbare Einwegmüll sorge dafür, dass man den Ressourceneinsatz überschätze, während man den Aufwand für die Stromproduktion naturgemäß nicht sehe.
Der deutsche Kaffeeverband teilt diese Sicht und fragt: Wenn Einwegbecher abgeschafft würden, wann sind dann Bäckertüten, Pizzakartons und Foodora-Boxen dran? Ein wenig überraschender Einwand von einem Lobbyverband, aber ist er deshalb ungerechtfertigt?
So landet man also, ausgehend von der Empörung über die Verschwendung im eigenen Büro, unerwartet bei einer ganz anderen Frage: Gibt es denn nichts Wichtigeres, in das man Ehrgeiz und Steuergelder stecken könnte? Vielleicht in Aufklärung über die Folgen von Fleischkonsum, Flugreisen oder Kreuzfahrten?
Jeder mediale Fokus auf ein Thema drängt ein anderes an den Rand. Wo dieser Text steht, steht kein Text über die Abholzung des Regenwalds oder das Aussterben der Singvögel. Die Konzentration auf Einzelthemen kann sogar schädlich sein: Eine Abteilungsleiterin des Naturschutzbunds, mit der man über die Becher spricht, erklärt, das „Plastikbashing“ halte sie für fatal: „Das Signal an die Bevölkerung ist: Tüten aus Plastik muss man unbedingt vermeiden. Dabei sind, wenn man das Plastik korrekt entsorgt, Einwegtüten aus Papier ökologisch viel schlimmer.“
Der Gedanke ist unbequem und fühlt sich reaktionär an, drängt sich aber trotzdem auf: Es ist die Frage, ob wir den Kaffeebecher nicht lieber akzeptieren sollten, vielleicht ein paar größere Mülleimer aufstellen und die Wut stattdessen in die Lösung von Problemen investieren, die schlimmere Auswirkung haben.
Wie wäre es zum Beispiel mit Recycling? Denn auch wenn der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter bei der Vorstellung der Becherkampagne für die Zeitungsfotografen höchstpersönlich einen Schluck aus dem „Recup“ trank, hat München als einzige deutsche Großstadt keinen gelben Sack und keine gelbe Tonne. Nirgends wird so wenig Verpackungsmüll pro Kopf gesammelt wie hier. Weil die Stadt Kunststoffverpackungen lieber im Restmüll einsammelt, um damit die städtischen Verbrennungsanlagen günstig zu befeuern. Wäre das nicht mal ein paar Plakate auf Müllautos wert?
Eines ist bis hierher jedenfalls klar: Etwas mehr Klarheit wäre hilfreich. Wenn man in die SZ-Cafeteria künftig einen Mehrwegbecher mitbringen soll, wäre es doch schön zu wissen, dass das auch wirklich was bringt. Es ist aber leider, wie so oft in unserer verflochtenen Welt, kompliziert. Belastbare Zahlen über den gesamten Kreislauf eines Kaffeebechers gibt es nicht. Das Umweltbundesamt arbeitet zwar gerade an der ersten umfassenden Untersuchung, aber die Ergebnisse kommen erst im Herbst. Bis dahin scheinen die meisten Kaffeetrinker, auch die bei der SZ, die einfachste aller Strategien anzuwenden: weitermachen wie bisher.
Thomas Fischer hat da allerdings etwas dagegen. „Man muss die kleinen und die großen Räder gleichzeitig drehen“, sagt der Leiter für Kreislaufwirtschaft bei der Deutschen Umwelthilfe. Soll heißen: Zum einen als Konsument möglichst wenig Verpackungsmüll verbrauchen. Zum anderen als Gesetzgeber das Plastik teurer machen und so viele Einwegprodukte durch Mehrweg ersetzen wie möglich. Die EU sei also auf dem richtigen Weg. Im Übrigen, sagt Fischer, seien die überall herumliegenden Coffee-to-go-Becher zumindest in einer Hinsicht auch nützlich: „Als wahrnehmbares Beispiel für ein nicht nachhaltiges Konsumverhalten.“ Denn im Gegensatz zum Flugreisenden oder dem Fleischesser bekommt der Kaffeetrinker die Folgen seines Handelns zeitlich und räumlich ganz unmittelbar vorgeführt: an den Becherbergen vor der eigenen Haustür.
Der Becher ist also tatsächlich, genau wie die aus dem deutschen Einzelhandel weitgehend verbannte Plastiktüte, vor allem ein Symbol. Für eine Gesellschaft, die viel zu viele Ressourcen verschlingt, gerade dort, wo man es nicht sieht. Aber was spricht dagegen, ein Symbol zu bekämpfen? Denn ganz abgesehen von der genauen Ökobilanz, sagt Kreislaufexperte Thomas Fischer zum Schluss: „Jede Tonne Abfall, die nicht in der Umwelt landet, hilft.“
Bliebe noch ein Gegenargument. Der moralische Ablasshandel. Führt der Verzicht auf die Plastiktüte im Supermarkt oder der Umstieg auf Mehrwegbecher nicht dazu, dass immer mehr Menschen glauben, sie hätten schon genug für die Umwelt getan – und mit besserem Gewissen als zuvor den nächsten Golfurlaub in Südafrika buchen?
Eher nicht, sagt Daniel Hanss, Professor für Umweltpsychologie in Darmstadt. „Wichtig ist aber, dass die positiven Folgen des eigenen Handelns erlebbar sind.“ Das Gefühl, als Individuum Einfluss auf die Lösung eines Problems zu haben, hilft, Alltagsroutinen zu ändern, und zwar dauerhaft. Es kann dadurch sogar zum „Spillover-Effekt“ kommen: Also zum Überspringen des neu gewonnenen Bewusstseins in andere Bereiche. Wer gewohnt ist, seinen Kaffee im Pfandbecher zu trinken, wird sich vielleicht auch gegen einen Salat in der Plastikschale entscheiden. Oder im Fußballstadion nachfragen, warum das Bier im Einwegbecher kommt.
Nun denn: Einen verpflichtenden Pfandbecher für die SZ-Cafeteria, was wäre daran so schwer? Besuch beim Geschäftsführer der Cafeteria, Thomas Kisters. Er sieht das Müllproblem genauso. „Ich bin Taucher, ich weiß, was im Meer los ist.“ Auf seinem Schreibtisch stehen deshalb vier verschiedene Mehrwegbecher, aus Porzellan und Kunststoff. Seine Firma betreibt auch Cafés in anderen Bürogebäuden, dort hätten die Firmen teilweise schon umgestellt und gäben gar keine Pappbecher mehr aus. Kisters sagt, er wäre sofort bereit, auch im Süddeutschen Verlag die Einwegbecher abzuschaffen. Sie kosten ihn acht Cent pro Stück, ein Posten von 4000 Euro im Jahr. Nur: Wenn er künftig ausschließlich Pfandtassen ausgebe, dürfte auch der Automat in der Cafeteria, den eine andere Firma betreibt, keine Pappbecher mehr anbieten. „Sonst geht jeder, der seinen Bechervergessen hat, dahin.“ Seine Bedenken decken sich mit der Einschätzung von Daniel Hanss, dem Umweltpsychologen: Gleiches Recht für alle, sonst siegt die Bequemlichkeit.
Dass das funktionieren kann, hat eine zumindest ähnliche Situation vor 15 Jahren gezeigt. Eine Abgabe auf eine alltägliche Getränkeverpackung sollte eingeführt werden. Das Problem war noch größer als heute: Die Verpackung wurde jährlich so oft verkauft, dass sie zum Turm gestapelt bis zum Mond gereicht hätte und sogar wieder zurück. Lobbyverbände und konservative Politiker schäumten vor Wut, eine CDU-Vorsitzende namens Angela Merkel kommentierte den geplanten gesetzlichen Eingriff so: „Der Schwachsinn kennt an dieser Stelle keine Grenzen.“ Der grüne Umweltminister setzte das Dosenpfand trotzdem durch.
Und bei allen Protesten, die es damals mit sich brachte, macht doch eine Zahl heute Hoffnung: Der Verkauf von Getränkedosen ging innerhalb von drei Jahren um 98 Prozent zurück.