Dünn sein? Geht gar nicht! Wer heute jung und männlich ist, braucht dringend große Muskeln. Über Ursachen und Nebenwirkungen eines neuen Schönheitsideals
Wenn der Schulgong die Pause einläutet, geht für Johnny die Arbeit los. Er holt dann eine der drei großen Tupperboxen aus dem Rucksack, öffnet sie und schaufelt los. Er muss sich beeilen, drei Pausen sind nicht viel für die 600 Gramm Reis, trocken gewogen, und 700 Gramm Hühnchenbrust, die sein Ernährungsplan für jeden Schultag vorsieht. „Aufessen ist ein Muss“, sagt Johnny, 17 Jahre alt. Und dass er sich viel besser fühle, seit er T-Shirts in Größe XXL trage.
Johnny liegt, während er das erzählt, in einem Fitnessstudio in München seitlich auf einer Yogamatte, er breitet die muskulösen Arme aus und biegt den massiven Oberkörper in die Gegenrichtung. Dehnübungen vor dem Hanteltraining. Seit knapp zwei Jahren arbeitet er hier gemeinsam mit einem Freund an seiner Muskulatur. Die beiden kommen sechsmal die Woche. Und siebenmal die Woche steht Johnny abends eine halbe Stunde in der Küche seiner Eltern und bereitet die Nahrung für den nächsten Tag zu: Insgesamt 5000 Kalorien muss er essen, „manchmal auch 6000, um meinen Körper zu schocken“. Weniger auf gar keinen Fall.
Johnny ist ein sympathischer blonder Junge mit breitem Lächeln. Er wiegt jetzt 88 Kilo, mit der Diät habe er in zwei Jahren 30 Kilo „draufgepackt“. Wobei sein aktuelles Gewicht für ihn auch nur eine Zwischenstation ist: „In zwei, drei Jahren wären 120 Kilo schon super. Dann wär ich ’ne richtige Kante.“
Wenn Johnny und sein Freund sich unterhalten, könnte man mit geschlossenen Augen denken, man belausche zwei Magersüchtige. Sie sprechen darüber, wie viele Kalorien ein halber Liter Bier enthält und wie viele Kohlenhydrate eine Handvoll Cornflakes. Nur dass sie, im Unterschied zu Magersüchtigen, das genaue Gegenteil von Schlankheit erreichen wollen. Sie nehmen sechs Mahlzeiten am Tag zu sich, krank sein ist für sie ein Albtraum, denn wer krank ist, kann nicht essen und nicht trainieren. Noch schlimmer wäre nur eines: Urlaub. „Ich könnte nie irgendwo Ferien machen, wo es kein Gym gibt“, sagt Johnny. Der einzige Vorteil sei, dass man dann am Frühstücksbuffet so viel essen könne, wie man wolle. Johnny frühstückt jeden Tag das Eiklar von zehn Eiern, plus ein Protein-Shake mit Haferflocken. Billig ist diese ausgefallene Diät nicht.
Und sie ist eigentlich auch nicht besonders ausgefallen. Jungs, die ihr Leben so rigoros dem Muskelzuwachs widmen wie Johnny und sein Freund, mögen auf Erwachsene extrem wirken – aber unter Gleichaltrigen erntet ein so strikter Lebenswandel längst kein Unverständnis mehr. Er deckt sich mit dem geltenden Schönheitsideal. Ständiges Trainieren und strategisches Essen gehören da nun mal dazu.
Man bekommt es möglicherweise nicht direkt mit, aber unter jungen Männern grassiert eine neue Angst: die Sorge vor dem Dünnsein. Eine schlaksige Silhouette, schmale Schultern und Spargelbeine – das war bis in die frühen Nullerjahre die sozial akzeptierte Standardfigur von Jungs zwischen 15 und 20. Inzwischen wurde auf deutschen Schulhöfen dafür der Begriff „Lauch“ eingeführt. Ein „Lauch“ bewegt sich im Respekt-Ranking unter Teenagern irgendwo zwischen Klassenclown und Versager. Wer etwas auf sich gibt, sollte hingegen eine „Kante“ sein. Also breit. Eine Referenzgröße ist zum Beispiel „breiter als der Türsteher“ (ein geflügeltes Wort, seit der Deutschrapper Majoe ein Album mit diesem Titel veröffentlichte, es landete auf Platz eins der Charts). Und wer nicht breit ist? Weil er zum Beispiel von Natur aus eher in Richtung Lauch tendiert oder gerade in der Stoffwechselhölle der Pubertät steckt? Der muss zumindest daran arbeiten.
Abseits der Schulhöfe beobachten auch Psychologen den Trend mit wachsender Faszination: Während es sich nämlich mittlerweile herumgesprochen hat, dass es unfein ist, über Körperlichkeiten von Frauen allzu explizit zu sprechen – Stichwort „Bodyshaming“ – ist unter jungen Männern das Gegenteil zu beobachten. Der Körper ist zum wichtigsten Maßstab und Vergleichsobjekt geworden, ein neuer Standard hat sich etabliert: der hypermuskulöse Mann. Und zwar nicht mehr nur in der alten Nische der Bodybuilder, sondern überall in der westlichen Welt: Laut einer US-Studie finden normale junge Männer solche Körper am attraktivsten, die durchschnittlich 14 Kilo mehr Muskelmasse haben als ihr eigener. Australische Forscher fanden vergangenen Sommer heraus, dass Jungs im Alter von zwölf bis 18 heute gestresster von ihrem Körperbild sind als gleichaltrige Mädchen. Die Werbung setzt Männermodels ein, deren durchschnittliche Muskulatur anderen Studien zufolge über die Jahre massiv zugenommen hat. Und durch diese Werbespots wurden die Probanden noch einer anderen Studie wiederum messbar unglücklicher mit dem eigenen Körper, als sie ohnehin schon waren. Noch was: Vor wenigen Wochen meldete ein Team von Harvard-Forschern, dass Anabolika nicht mehr nur von Bodybuildern als Doping verwendet werden – sondern in den USA von etwa vier Millionen Freizeitsportlern. Die meisten von ihnen „junge Männer, die ihr Aussehen verbessern wollen“.
In Deutschland vermuten Experten ähnliche Zahlen. Aber auch wenn der Gebrauch von muskelbildenden Medikamenten sich noch immer auf Extremfälle beschränkt, notieren Fachleute einstimmig, dass sich etwas verschoben hat im Blick normaler Männer auf sich selbst. „Der Druck steigt ganz gewaltig. Gerade auf die Jungen“, sagt etwa Barbara Mangweth-Matzek, Professorin an der Medizinischen Universität Innsbruck. Sie erforscht seit Jahren Körperbildstörungen und findet die neuerdings auch gehäuft bei Männern. „Für Herren hat es früher gereicht, beruflich toll zu sein. Schön musste im Grunde nur die Frau sein. Heute müssen Männer dagegen auch optisch was hermachen.“ So ist für Psychotherapeuten ein Arbeitsfeld hinzugekommen: der Mann, der seinen Körper nun ebenfalls immer öfter als minderwertig wahrnimmt und darunter leidet.
Das männliche Äquivalent zur Magersucht gibt es auch schon, die sogenannte Muskelsucht, im Fachjargon Muskeldysmorphie. „Die Patienten sind maximal muskulös, aber trainieren sich regelrecht kaputt. Weil sie sich im Spiegel als zu dünn wahrnehmen“, sagt Barbara Mangweth-Matzek. Nach der Debatte um Size-Zero-Models und ihre schädliche Wirkung auf die Psyche von jungen Frauen könnte nun also bald auch eine Diskussion um unrealistische männliche Körperbilder entstehen. Die spannende Frage bei dieser Entwicklung ist freilich: Woher kommt sie?
Bei Fit Star in München-Giesing ist an diesem Montagabend Hochbetrieb. Laufbänder surren, Hantelstangen klirren. Am Empfang sind zwei Trainer ununterbrochen damit beschäftigt, Verträge mit Neukunden auszufüllen. Fitness ist in Deutschland längst Sportart Nummer eins. Zehn Millionen Deutsche sind Mitglied in einem Studio, die Zahl hat sich in zehn Jahren verdoppelt. Fit Star ist eine Kette aus München, die Mitgliedschaft ist mit knapp 17 Euro monatlich eine der günstigsten, vermutlich trainieren auch deshalb hier besonders viele junge Leute. „Die Mädchen kommen meistens zum Abnehmen“, sagt ein Trainer, „die Jungs zum Aufbauen.“
Wobei deren Ungeduld ungleich größer sei als die der Mädchen. Nicht selten werde er von 16-jährigen Hänflingen schon bei der Anmeldung gefragt, welches Proteinpulver sie denn bestellen sollten. „Die haben oft noch nie eine Hantel in der Hand gehabt, aber irgendwo gehört, dass sie mit dem richtigen Pulver zehn Kilo in zwei Monaten zunehmen können“, sagt der Trainer und seufzt. „Da muss man erst mal die Erwartungen runterholen.“ Die Marke Fit Star wirbt deshalb auf Plakaten absichtlich nicht mit Fotos von Bodybuildern, erklärt der Pressesprecher, in keinem der Studios habe man Waagen aufgestellt: „Wir wollen unrealistischen Körperidealen bewusst vorbeugen.“ Aber im Kampf gegen die Ungeduld der dünnen Jungs gibt es einen übermächtigen Gegner: das Internet.
Karl Ess betritt einen Backshop in München-Bogenhausen und muss direkt wieder rausgehen. Eine Gruppe orange gekleideter Männer von der Straßenreinigung will Selfies mit ihm machen: „Krass, dass du hier bist!“ Ess, ein austrainierter Mann mit rötlichem Bart und Basecap über der Glatze, macht geduldig Fotos, dann setzt er sich ins Eck und bestellt Kaffee. Er betreibt einen der erfolgreichsten Fitness-Kanäle auf Youtube, knapp eine halbe Million Menschen sehen seine Videos. Die heißen zum Beispiel „5 Kilogramm in 7 Tagen aufbauen“, „Übungen für einen massiven Trizeps“ oder „BRUTALE ARME“. Johnny vom Anfang dieser Geschichte ist einer seiner Fans.
Warum also, Herr Ess, wollen heute so viele 17-Jährige BRUTALE ARME? „Ganz einfach“, sagt Ess, „keine andere Sportart passt so gut in die Gegenwart. Immer mehr Leute sind krank und übergewichtig.“ Außerdem: „90 Prozent der Jungs wissen doch heute gar nicht, wohin im Leben! Mit Fitness haben die zum ersten Mal Kontrolle über irgendwas. Die sehen sofort Resultate. Das macht süchtig.“ Karl Ess ist Autodidakt, er studierte Wirtschaftsingenieurwesen und trainierte privat, als er das Potenzial dieser vielen Jungs erkannte. Also las er sich „in die ganze Biochemie“ ein, entwickelte ein individuelles Online-Trainingsprogramm und verkaufte es an seine Youtube-Fans für 150 Euro. Insgesamt 20 000 Mal. Inzwischen bietet er auch Nahrungsergänzungsmittel, Sportklamotten und Kochbücher an. Er ist jetzt 27 und fährt Ferrari.
Und er ist nur einer von Hunderten, die mit der neuen Muskel-Sehnsucht im Netz Geld verdienen. Einer der Ersten war der Würzburger Fitnesstrainer Flavio Simonetti, auf seiner Website nennt er sich „Retter der Dünnen“. Er hat sich mittlerweile ein neues Konzept ausgedacht: eine Art Persönlichkeitscoaching für ehemals Dünne. Also Jungs zwischen 20 und 30, erklärt er am Telefon, „die jetzt zwar vielleicht den Körper haben, den sie immer wollten – aber immer noch nicht genau wissen, wie sie charakterlich ihren Mann stehen“. Auf der Bedürfnispyramide des modernen Mannes bedient Simonetti sozusagen die Stufe oberhalb der Muskulatur.
Woher der Druck kommt, der Fokus auf den Body, der Trend zum Muskelmann? Barbara Mangweth-Matzek, die Professorin aus Innsbruck, sieht zwei Ursachen: „In unserer adipösen Gesellschaft lautet die Botschaft heute immer: Halt dich fit.“ Auf der anderen Seite habe die Schönheitsindustrie nun auch den Mann als Konsumenten entdeckt. „Die Werbung vermittelt heute auch Männern ständig, sie müssten schön sein und deshalb Geld für Kosmetika oder Fitness ausgeben.“ Nun, da das Ideal etabliert sei, laufe die Sache sozusagen von selbst.
Es gibt noch eine andere, provokantere Theorie. Sie stammt von dem Psychiater und Harvard-Professor Harrison Pope, der Ende der 90er-Jahre als Erster das Phänomen der Muskelsucht beschrieb und sich seither weltweit am intensivsten mit dem Thema beschäftigt. Er schreibt: „Mit dem Fortschritt des Feminismus haben Männer ihre ehemals exklusive Rolle als Krieger und Ernährer aufgegeben.“ Der Fokus auf übertrieben muskulöse Körper sei eine „Reaktion auf diesen Wandel“ – das breite Kreuz als letzte Bastion echter Männlichkeit. Um seine Theorie zu stützen, wies Pope nach, dass Werbeanzeigen in allen großen Frauenmagazinen seit Jahren immer mehr und immer muskulösere nackte Männerkörper zeigen. Wenn sich Produkte so offenbar besser verkauften, seien Frauen folglich mehr an aufgepumpten Körpern interessiert als früher. Für den 17-jährigen Johnny ist das eh klar, er kennt keinen besseren Grund für seine 5000-Kalorien-Diät: „Die Mädels lieben Muskeln!“
Dabei beginnt die Prägung schon lange bevor sich Jungs um ihre sexuelle Anziehungskraft Gedanken machen. Der Psychiater Pope hat nämlich auch die Muskulatur der beliebtesten Spielzeug-Actionfiguren der letzten 40 Jahre vermessen. Ergebnis: Im Vergleich zu früher sind sämtliche Kinderzimmer-Helden von Luke Skywalker bis Batman heute geradezu grotesk muskulös. Neben der neuesten Version von „G.I. Joe“ wäre selbst der größte menschliche Bodybuilder maßstabsgetreu kaum mehr als ein Lauch.
Aber interessanterweise fand Pope auch eine Ausnahme unter den Spielzeugfiguren: den Barbie-Ken. Ausgerechnet Ken, der seit mehr als 50 Jahren ein Leben an der Seite des verhasstesten aller Symbole für unrealistische Proportionen fristet, hat sich dem Trend widersetzt. Die einzige Actionfigur, die Millionen Mädchen nachweislich lieben, hat keine größeren Muskeln als früher.