Ein 31-Jähriger mischt die österreichische Politik auf, ein 28-Jähriger die SPD. Sie ernten Häme und Spott, denn Altersdiskriminierung ist noch immer salonfähig
Sechzig soll ja das neue vierzig sein, vierzig das neue dreißig. So hört man das zumindest ständig auf Partys, vor allem dann, wenn dort gerade ein sechzigster respektive vierzigster Geburtstag gefeiert wird. Wer in diesen Wochen Zeitungen liest oder Nachrichten guckt, kann diesen Partywitz ergänzen durch eine weitere Regel, die sich gerade durchsetzt und noch ein bisschen knackiger klingt: 31 ist offenbar das neue fünf.
Sebastian Kurz, der neue österreichische Bundeskanzler, ist 31. Er hat seit sieben Jahren Regierungsverantwortung, davon vier Jahre als Außenminister. Er ist seriös gekleidet, argumentiert vernünftig, kann lesen und schreiben und neigt, soweit bekannt ist, nicht zu Brüllanfällen auf dem Spielplatz. Und doch wird der Mann jeden Tag irgendwo als „Wunderkind“ oder „Wunderknabe“ angekündigt, zuletzt vergangene Woche im Sendungstitel der Talkshow „Maischberger“, deren Moderatorin den Kanzler als „zarteste Versuchung, seit es Populismus gibt“ vorstellte und dann mit den höchst drängenden Fragen grillte, wo denn sein Studentenausweis sei und wie es mit Hochzeitsplänen aussehe. Als das „Wunderkind“ Mozart sein erstes Stück komponierte, war es übrigens fünf.
Kevin Kühnert, der Chef der Jusos, ist 28. Er hat in der SPD soeben mit ziemlich sensationeller Souveränität die Gegner einer großen Koalition hinter sich vereint und ist deshalb seit zwei Wochen im medialen Dauerfokus. Allerdings nicht vorrangig als Politiker, wie etwa sein Gegner Martin Schulz, sondern als „Milchgesicht“ (Bild), „Jedi-Lehrling“ (Tagesschau.de), als „Kevin ganz groß“ (SWR) oder, mit dem Diminutiv gleich in den Nachnamen gerührt, als „Kevin Kleinert“, wie Maybrit Illner ihn gleich zweimal versehentlich nannte. Dass in ihrer Talkrunde ein ziemlich unbekannter grauhaariger Politologe den Juso-Vorsitzenden gleich noch aufs Heftigste duzte, fiel da kaum noch auf. Am Donnerstag dieser Woche berichtete Kühnert dann noch bei Twitter, er sei gerade vom Privatsender RTL dazu befragt worden, ob er eigentlich in einer WG lebe.
Das Schicksal als verzwergter Erwachsener teilt sich Kühnert, der immer in Turnschuhen und nie im Sakko auftritt, in dieser Woche mit Annika Klose. Die 25-Jährige ist seit mehr als zwei Jahren Chefin des größten politischen Landesverbands Berlins. Der Chefredakteur einer auflagenmäßig stark schrumpfenden Sonntagszeitung bezeichnete sie nach ihrer frenetisch gefeierten Rede auf dem SPD-Parteitag via Twitter als „sehr aufgeregtes Mädchen“.
Über das Alter kann man’s eben machen: jemanden runterspielen, kleinmachen, auf Eigenschaften reduzieren, für die er oder sie nichts kann. Man nennt das Diskriminierung. Und die ist, das fällt in diesen Tagen auf, offenbar noch weitgehend akzeptiert, wenn es ums Alter geht.
Betroffen sind zum Beispiel der in ausnahmslos jedem Nachrichtenbeitrag sogenannte „junge Präsident“ Emmanuel Macron, 40, der „eitle“, „eloquente“, aber eben stets auch „junge“ FDP-Chef Christian Lindner, 39, die „schöne“ und aber auch „junge“ Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli, 39, oder der „junge, schwule“ CDU-Staatssekretär Jens Spahn, 37.
Der gleichaltrige neue Herausgeber der New York Times, Arthur G. Sulzberger, beschrieb diese Woche, wie ihn ständig Leute fragen, ob er sich in diesem Alter mit diesem Job nicht vielleicht übernommen habe. Und selbst im Profifußball ist man für gewisse Aufgaben „zu jung“: So begründete der FC Bayern am Donnerstag, warum eine Übernahme des Hoffenheim-Trainers Julian Nagelsmann nicht mehr von Interesse sei, der zwar unzweifelhaft hochtalentiert ist, aber eben leider erst 30.
Fairerweise muss man sagen, dass derzeit nicht nur ein zu geringes Lebensalter erwähnens- und belächelnswert ist, sondern auch ein zu hohes. Über die erektile Funktionsfähigkeit des „alten weißen Mannes“ Donald Trump, 71, spotten die Late-Night-Talker nicht erst seit dessen Atomknopf-Tweet. Dem AfD-Abgeordneten Alexander Gauland, 76, wurde im vergangenen Jahr von führenden Sozialdemokraten augenzwinkernd Senilität angedichtet und von anderer Seite immer mal wieder ein biologisches Karriereende vor Ablauf der Legislaturperiode prophezeit. Mit dem rechten alten Sack kann man’s ja machen. Nun kann man an diesen Herren politisch natürlich einiges kritisieren – aber sollte man es gerade dann ihren Anhängern nicht vielleicht ein kleines bisschen schwerer machen, sich über die Kritiker zu empören?
Tatsächlich scheint das Alter nur dann keine Rolle zu spielen, wenn es sich mehr oder weniger in der Mitte einer Art Gauß’schen Normalkurve befindet. Als zum Beispiel in der „Maischberger“-Sendung Jürgen Trittin neben dem österreichischen Kanzler Platz nahm, wurde er nüchtern und korrekt als „Grüner Außenexperte“ vorgestellt – und nicht etwa als „quäkendster Besserwisser, seit es Talkshows gibt“, oder was man sich analog zur zartesten Versuchung hätte ausdenken können. (Trittin fällt mit seinen 63 Jahren natürlich eigentlich selbst in die Kategorie „alter weißer Mann“; seine Parteizugehörigkeit und die trittinische Sitzhaltung scheinen ihm aber in der öffentlichen Wahrnehmung ein paar Jahre zu schenken.)
Ansonsten ist es so: Wer sich als öffentliche Person altersmäßig nicht zufällig gerade in dem sehr schmalen Korridor zwischen Mitte vierzig und Mitte fünfzig befindet, muss sich durch tonnenweise inhaltsfreie Häme wühlen, bis er irgendwann für das wahrgenommen wird, was er eigentlich macht oder sagt. Diesseits und jenseits des Korridors warten Krabbelgruppenvergleiche und Viagra-Gags.
Was für ein Jammer. Denn eigentlich hatten sich doch gerade erst alle darauf geeinigt, unabänderliche Dinge wie Geschlecht, Aussehen oder Sexualität aus der öffentlichen Diskussion zu streichen. Für jeden anzüglichen Kameraschwenk über ein Strumpfhosenbein in öffentlich-rechtlichen Talkshows wird heute eine Entschuldigung getwittert. Fragen nach der Sexyness von Christian Lindner stellt in politischen Talkshows nur noch der sehr peinliche, aber zu seinem Glück genau normal-alte Claus Strunz, 51. Und wenn, wie vorige Woche, die Premierministerin von Neuseeland ihre Schwangerschaft verkündet, wird nicht sie oder ihr Amtsverständnis kritisiert – sondern rückwirkend noch mal der Reporter, der es gewagt hatte, sie im Wahlkampf nach ihrer Familienplanung zu befragen.
Das ist wichtig und richtig. Weil es Stück für Stück Gleichheit herstellt. Der mit gespielter Sorge von Männern vorgebrachte Satz „Darf man das überhaupt noch sagen?“ mag ja viele nerven – seine mittlerweile sehr weite Verbreitung quer durch die Bildungsschichten zeigt aber, dass der Kampf gegen Diskriminierung in den letzten Jahren weit gekommen ist. Wieso ist nun ausgerechnet das Alter die letzte Bastion der gesellschaftlich akzeptierten Diskriminierung?
Bei Sebastian „Wunderkind“ Kurz und Kevin „Milchgesicht“ Kühnert ist die Sache noch relativ leicht zu erklären: Sie sind Exoten. In einer Gesellschaft, die immer älter wird, in der immer weniger junge Menschen in Parteien aktiv sind oder medial zu Wort kommen, überraschen zwei souverän auftretende Millennials, die doch, wie wir alle ständig hören und lesen, sonst jede Festlegung meiden und lieber eine Dreitagewoche wollen als einen Dienstwagen. Huch, und von denen haben jetzt plötzlich welche was zu sagen?
Bei den Gaulands und Trumps dieser Welt speist sich der verächtliche Unterton eher aus einer Art Misstrauen: dem Gefühl, dass hier jemand seinen Schlusspfiff nicht gehört hat und sich irgendwie widerrechtlich in eine Welt einmischt, die er doch ohnehin nicht mehr lang bewohnen wird. Können die, diese Frage steht immer im Raum, nicht endlich mal Ruhe geben und irgendwo unauffällig auf den Tod warten?
Besonders dramatisch muten da die Fälle an, in denen sogar ehemalige Milchgesichter und Wunderknaben plötzlich medial auf der Seite der „alten weißen Männer“ auftauchen. Zu beobachten etwa bei Joschka Fischer, 69, oder dem 73-jährigen, aber sensationellerweise trotzdem frisch verliebten Gerhard Schröder. „Das Alter“, sagte Madonna vor ein paar Jahren mal in einem Interview, „ist das Einzige, womit dich Leute noch diskriminieren und Scheiße reden können.“
Dabei kämpfen die Jungen und die Alten interessanterweise mit ein und demselben Vorwurf, wie die Zeit kürzlich notierte: Den Jungen werde vorgeworfen, entweder „radikal oder generationstypisch angepasst“ zu sein; die Alten gelten ganz genauso pauschal als wahlweise altersmilde oder altersradikal. Über die gefährliche Radikalität oder übertriebene Milde von 51-Jährigen liest man indes selten.
Dass es sich bei alldem ohnehin um eine völlig para-faktische Diskussion handelt, erkennt man schon daran, dass es aus wissenschaftlicher Sicht gar kein „zu jung“ oder „zu alt“ für viel Verantwortung, vernünftige Entscheidungen oder hohe Ämter gibt. Die kognitive Leistungsfähigkeit, die bei den Jungen oder Alten ja im Subtext immer in Frage gestellt wird, hänge von zwei Faktoren ab, erläutert der Entwicklungspsychologe Detlef Rost von der Universität Marburg: „flüssiger“ und „kristalliner“ Intelligenz. Vergleichbar mit der Hardware und der Software eines Computers. Die eine baut ab dem 25. Lebensjahr langsam ab, damit wären Milchgesichter sehr viel geeigneter für anspruchsvolle Jobs als ältere Menschen. Die kristalline Intelligenz, also die Verknüpfung von Wissen und Erfahrung, trage hingegen oft bis ins hohe Alter.
Nach allem, was man sagen kann, kommt es also überhaupt nicht aufs Alter an, sondern darauf, wie gut ein Mensch im Team arbeitet. Und ob er seine Schwächen mit einem kompetenten Umfeld ausgleicht, egal ob die individuelle Schwäche nun jugendliche Unerfahrenheit oder Altersstarrsinn ist. Rudolf Augstein gründete denSpiegel mit 23. Konrad Adenauer war Bundeskanzler, bis er 87 war.
Natürlich steckt hinter dem Hinweis auf ein geringes Alter in Wahrheit auch mehr als die Sorge in Hinsicht auf mangelnde Erfahrung oder Reife. Er sehe da „eine Mischung aus Abwehr und Neid“, sagt etwa der Soziologe Klaus Hurrelmann, der seit Jahrzehnten Generationenkonflikte erforscht. Der Hinweis auf das Alter sei immer negativ konnotiert, er deute darauf hin, „dass die Sender sich unwohl fühlen“. Vielleicht wegen der gigantischen Unterstützung, die der Juso-Vorsitzende in Berlin bekommt. Wegen der nachhaltig guten Umfragewerte des französischen Premiers. Oder wegen des in der Tat außergewöhnlichen Charismas des österreichischen Kanzlers. Dazu kommt die Sorge, dass man es hier mit einer Kraft zu tun hat, der man womöglich selbst nicht mehr gewachsen ist.
Immerhin: Es handelt sich hierbei um ein Problem, aus dem jeder irgendwann von alleine rauswächst – bis man dann eben auf der anderen Seite wieder in das Problem hineinwächst. Oder, wie Angela Merkel es vergangene Woche beim Kurz-Besuch ausdrückte: „Irgendwann merkt man an sich selbst, dass man hinüberrutscht zu den Älteren.“ Bis es so weit ist, können wir uns aber vielleicht ja mit einer Strategie behelfen, die die Schriftstellerin und Aktivistin Ashton Applewhite kürzlich in einem viel beachteten Beitrag in der New York Times vorgeschlagen hat: Um ein bestimmtes Stigma in der Gesellschaft langfristig zu bekämpfen, schrieb sie, müssten alle Diskriminierten genau dieses Merkmal extra betonen. Sei es eine andere Hautfarbe, eine von der Norm abweichende sexuelle Orientierung oder eben: das Alter.
Applewhite plädiert also dafür, gegen Altersdiskriminierungvorzugehen, indem man graue Haare nicht mehr färbt. Falten nicht mehr wegspritzt. Das Alter damit also nicht mehr als minderwertig erscheinen lässt. Dass Kevin Kühnert dieser Tage ständig ohne Sakko in den Talkshows sitzt, ist da schon mal ein guter Anfang. Wer das Jungsein andauernd zu überspielen versucht, wertet es damit schließlich auch indirekt ab. Das muss jetzt nur noch jemand Sebastian Kurz ausrichten und dem Kanzler einen Hoodie schenken.