Diese Flasche enthält eine Droge, die extrem abhängig macht, mit deren Hilfe jedes Jahr Hunderte Frauen vergewaltigt werden und die nur 10 Cent pro Gramm kostet. Warum ist sie nicht verboten?
Die Flasche, die es nicht geben dürfte, kommt nach 17 Tagen mit der Post. Die Flüssigkeit darin ist farblos, sie riecht schwach seifig, wie ein Bastelkleber für Kinder. Wenn es nach Chemiekonzernen und dem Bundesgesundheitsministerium geht, dürfte eine Privatperson die Flasche nicht bekommen. Sie enthält sogenannte K.-o.-Tropfen. Wir haben sie aber völlig problemlos im Internet bestellt, ein halber Liter kostet 49,95 Euro. Die Menge würde reichen, um zweihundert Menschen bewusstlos zu machen. Oder hundert zu töten.
Der Begriff „K.-o.-Tropfen“ wabert seit Jahren als vage Vokabel durch Nachtklubs und Lokalzeitungen, immer wieder warnen Aufklärungskampagnen davor. Mit dem Fall Gina-Lisa Lohfink hat der Begriff in diesem Jahr neue Prominenz erhalten. Das Model hatte zwei Männer beschuldigt, sie mit einem solchen Mittel betäubt und dann vergewaltigt zu haben. Fälschlicherweise, urteilte das Gericht. Es berief sich unter anderem auf das Gutachten eines Toxikologen, der in Videoaufnahmen zweifelsfrei zu erkennen glaubte, dass Lohfink nicht unter K.-o.-Mitteln gestanden habe. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
So ziemlich das Einzige, was in diesem Prozess niemanden empörte und auch sonst kaum jemanden zu interessieren scheint: K.-o.-Tropfen sind in Deutschland faktisch frei erhältlich. Sie fallen nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Und sie werden längst nicht nur als Vergewaltigungsdroge missbraucht.
K.-o.-Tropfen wirken in niedrigen Dosen ähnlich wie Alkohol. Sie machen euphorisch und kontaktfreudig. In mittlerer Dosierung schläfern sie ein. Axel Müller (Name geändert) hat sie ein halbes Jahr lang täglich geschluckt. Seither sieht er immer so aus, als würde es ihn frösteln. Beim Sprechen schlottern seine Lippen, seine Augenlider zucken. „Super, dachte ich am Anfang. Ist ja spottbillig und hat keine Nebenwirkungen.“ Müller war damals auf Heroin-Entzug. Er schlief schlecht, immer wieder durchfuhren ihn Schmerzschübe. Mit K.-o.-Tropfen konnte Müller endlich schlafen, drei Stunden am Stück. Eine Dosis kostet 20 Cent.
Die Tropfen heißen chemisch Gamma-Butyrolacton, abgekürzt GBL. Sie sind der Albtraum von Medizinern wie Michael Rath. Er ist Chefarzt der Suchtabteilung des Zentrums für Psychiatrie in Bad Schussenried im Süden Baden-Württembergs. Axel Müller ist sein Patient. „GBL ist schwer zu dosieren, ein Milliliter zu viel kann zum Atemstillstand führen“, sagt Rath. „Es macht sehr schnell körperlich abhängig, der Entzug ist härter als der von Alkohol. Wenn er gelingt, hinterlässt er häufig schwere Nervenschäden.“
Dazu kommt, dass GBL für Polizei und Justiz fast nicht nachweisbar ist. Selbst die Bluttests der Giftzentralen finden den Stoff nicht. Und nach spätestens 24 Stunden hat der Körper ihn ohnehin zu Kohlendioxid und Wasser verwandelt, weshalb er auch nicht in Todesstatistiken auftaucht. In einer europaweiten Studie stand GBL 2014 bei Vergiftungsnotfällen allerdings an vierter Stelle. Führende Toxikologen wie Florian Eyer vom Klinikum rechts der Isar gehen von einer „extrem hohen Dunkelziffer“ aus.
Wobei damit noch nicht mal das Perfideste erwähnt wäre. GBL schmeckt und riecht kaum und hinterlässt stundenlange Erinnerungslücken. Einer Studie der EU zufolge wird es deshalb am zweithäufigsten (nach Alkohol) als Vergewaltigungsdroge missbraucht. Belastbare Fallzahlen gibt es auch hier kaum – wenn die Opfer sich in der Rechtsmedizin melden, ist es fast immer zu spät für den Nachweis. So verschwindet die Flüssigkeit, die es nicht geben dürfte, bequem aus der Statistik.
GBL ist übers Internet legal erhältlich. Weil die chemische Industrie den Stoff in Massen braucht, um etwa Putzmittel zu produzieren, weigert sich das Gesundheitsministerium, ihn dem Betäubungsmittelgesetz zu unterstellen. Die Geschichte von GBL ist die Geschichte einer Chemikalie, die trotz nachweislich massenhaftem Missbrauch bis heute nicht zur harten Droge erklärt wurde. Weil deutsche Konzerne damit viel Geld verdienen.
Der Mediziner Michael Rath stößt 2005 zum ersten Mal auf Patienten, die von GBL abhängig sind. Sie zeigen schwerste Entzugssymptome, wochenlange Delirien, lebensbedrohlich hohe Herzfrequenzen von bis zu 200 Schlägen pro Minute. „Bis dahin war der Stoff unter Medizinern weitestgehend unbekannt“, sagt Rath. Bald erkennt er ein Muster: Konsumenten von „Liquid Ecstasy“, einer Droge, die damals seit Kurzem verboten ist, weichen auf das frei im Baumarkt erhältliche GBL aus. Denn es verwandelt sich im Körper zum Wirkstoff von Liquid Ecstasy, Gamma-Hydroxybuttersäure. Das Verbot ist damit nutzlos.
Bereits 1999 warnt die amerikanische Drogenaufsicht wegen mehrerer Todesfälle vor Produkten auf GBL-Basis und deklariert den Stoff als „potenziell lebensbedrohliche Gesundheitsgefahr“. 2008 kommt die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht zu dem Schluss: „Der Zugang zu GBL ist viel leichter und billiger als auf den illegalen Drogenmärkten.“ Italien, Lettland und Schweden unterstellen die Chemikalie daraufhin ebenfalls dem Betäubungsmittelgesetz. In Deutschland tut sich nichts.
Im Herbst 2008 kommt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing, nach Baden-Württemberg. Michael Rath drückt ihr einen Bericht über die GBL-Problematik in die Hand. Legal erhältlicheK.-o.-Tropfen? Die Drogenbeauftragte lädt Rath ins Ministerium nach Berlin ein.
Zu diesem Zeitpunkt ist der Chefarzt ein bundesweit anerkannter Experte für das Thema. Im Gesundheitsministerium hält er einen Vortrag, in dem er den steigenden Missbrauch belegt und „großen Handlungsbedarf“ erklärt: Notaufnahmen müssten geschult, Schnelltests eingeführt werden, um Missbrauchsopfer zu schützen. „Diese Substanz erfüllt alle Kriterien eines Betäubungsmittels“, sagt Rath, „warum ist sie trotzdem legal?“ Die Antwort erhält er direkt nach seinem Vortrag: Im Publikum sitzen mehrere Vertreter der Industrie. Es folgt eine Präsentation der Lobbyisten, die seine entkräften soll.
GBL ist ein Lösungsmittel, ein Grundstoff der chemischen Industrie. Der deutsche Konzern BASF produziert nach eigenen Angaben 100 000 Tonnen im Jahr. Das Unternehmen lehnt die Einstufung unter das Betäubungsmittelgesetz strikt ab. Das würde „strenge Auflagen und hohe Anforderungen an die Abnehmer von GBL nach sich ziehen“, erklärt eine Konzernsprecherin gegenüber der SZ. „Dies käme einem Verbot der Substanz gleich“, und bedeute „den Verlust wertvoller Produkte, die aus dem heutigen Alltag nicht wegzudenken sind“. Zum Beispiel Pflanzenschutzmittel oder bestimmte Antibiotika.
Das Gesundheitsministerium teilt die Sicht des Konzerns. Es verweist auf Anfrage der SZ auf ein „freiwilliges europäisches Monitoring-System“ der Industrie. Damit soll zum Beispiel der Handel mit Stoffen kontrolliert werden, die zur Herstellung von Heroin oder Amphetaminen nötig sind. Dass GBL für sich genommen schon eine fertig konsumierbare Droge ist? Dass diese innerhalb von 17 Tagen per Post geliefert wird, das Monitoring-System also offensichtlich große Lücken hat? Spielt in der Argumentation keine Rolle. Das Ministerium sieht keinen Handlungsbedarf.
Dabei reagiert es durchaus flexibel, wenn es um Extrawünsche der Industrie geht: Im November 2001 soll der Wirkstoff von Liquid Ecstasy, Gamma-Hydroxybuttersäure, mitsamt seiner chemischen Vorstufen in das Betäubungsmittelgesetz aufgenommen werden. Auch GBL wäre somit illegal. Dann passiert etwas Ungewöhnliches: Zwei Wochen vor Inkrafttreten ergänzt das Gesundheitsministerium eine Ausnahme aus der gerade beschlossenen Änderung. Die chemischen Vorstufen werden in Anlage II explizit vom Gesetz ausgeschlossen.In anderen Worten: K.-o.-Tropfen, die im Körper innerhalb von Sekunden zu Liquid Ecstasy werden, bleiben legal.Die Lobby hat sich durchgesetzt.
Konsumenten, Kriminelle und der Internethandel feiern den Beschluss. Erst 2009 entscheidet der BGH, dass der „Verkauf zu Konsumzwecken“ strafbar ist – mehrere Händler werden verurteilt, Baumärkte nehmen ihre Reinigungsmittel auf GBL-Basis aus dem Sortiment. Als Betäubungsmittel gelten die K.-o.-Tropfen aber weiterhin nicht. Konsumenten können sie problemlos bei Onlineshops im Ausland bestellen. Das bedeutet auch, dass es völlig legal ist, eine Flasche direkt ins Redaktionsgebäude der SZ zu bestellen. Axel Müller, der ehemalige GBL-Süchtige in Baden-Württemberg, lächelt bitter. „Ein Partyrausch für 20 Cent ist natürlich super. Wir hatten irgendwann jeder ’ne Literflasche dabei.“
Nach Michael Raths Vortrag im Gesundheitsministerium passiert nichts. Also stellt der Chefarzt privat Nachforschungen an. Wenn der Stoff schon nicht als Betäubungsmittel eingestuft wird – kann man ihn dann nicht wenigstens ungenießbar machen, wie Apothekenalkohol? Rath schreibt eine E-Mail an MacFarlan Smith, eine schottische Pharmafirma. Sie stellt den bittersten Stoff der Welt her, Handelsname „Bitrex“. Er ist als Vergällungsmittel in Kindershampoos oder Frostschutzmitteln enthalten. Schon in einer Konzentration von 0,001 Prozent macht Bitrex jede Flüssigkeit praktisch unschluckbar.
Rath hat durchaus Verständnis für die Industrie. „Die Vergällung wäre die Lösung für alle.“ Der vergällte Stoff könnte weiterhin legal bleiben, die Industrie könnte ihn tonnenweise verkaufen, ohne über jeden Liter Buch zu führen. Als K.-o.-Mittel würde die Chemikalie unbrauchbar. „Und unvergälltes GBL müsste als Betäubungsmittel gelten.“ Sobald jemand es also im Ausland bestellt oder selbst den Bitterstoff entfernt, würde er sich strafbar machen. Die Polizei könnte ermitteln, sobald jemand unvergälltes GBL mit sich führt. Bisher darf sie die Tropfen nicht mal konfiszieren, wenn jemand ein Fläschchen davon in der Diskothek dabei hat.
Die Industrie wehrt sich allerdings sogar dagegen: BASF sagt auf Nachfrage, „eine Vergällung ist mit vielen Anwendungen nicht kompatibel“. Das Gesundheitsministerium erklärt, der Vorschlag „wurde geprüft und als nicht geeignet und nicht praktikabel eingeschätzt.“
Dem widerspricht der zuständige Produktmanager bei MacFarlan Smith, Cameron Smith. Er schreibt Michael Rath auf dessen Anfrage im Dezember 2010: Er kenne das Thema gut. Seit Jahren habe er Kontakt zu Herstellern und Behörden. „Entgegen der Aussage vieler Firmen, die damit handeln, kann Bitrex GBL beigefügt werden. Es ist eine mögliche Lösung. Es könnte den Missbrauch reduzieren.“
Wenige Wochen später, am 7. Februar 2011, ist Michael Rath mal wieder als Experte zu einer Betäubungsmittel-Klausur im Gesundheitsministerium geladen. Er hat Hoffnung in die neue Drogenbeauftragte Mechthild Dyckmans. Diesmal muss es klappen. Rath hat eine 29-seitige Powerpoint-Präsentation vorbereitet. Allein im Landkreis seiner Klinik sind innerhalb eines Jahres drei junge Menschen an GBL gestorben. Die jährlichen Vergiftungsfälle am Klinikum rechts der Isar sind in sieben Jahren von knapp zehn auf knapp 140 gestiegen. Rath zitiert Streetworker aus Biberach und einen Rauschgiftermittler aus Weilheim, die sagen, GBL sei unter Jugendlichen „der absolute Hit“. Er plädiert für die Verwendung von Bitrex. „Selbst vergälltes GBL hätte einen Reinheitsgrad von 99,999 Prozent!“
Seither hat er nichts mehr gehört. Die Chemielobbyisten erklärten nach seinem Vortrag, die Vergällung könne leicht entfernt werden. Außerdem benötige man den Stoff nun mal in Reinform. Eine kuriose Kombination von Argumenten. „Wo ist bitte das Problem?“, sagt Michael Rath in seinem Chefarztzimmer in Bad Schussenried. „Wir haben hier eine hochpotente Droge, die für Taschengeldbeträge faktisch legal zu kaufen ist. Aber niemand will da so richtig ran.“ Und tatsächlich steht die Frage im Raum: Was wiegt eigentlich mehr, der Schutz von Menschenleben, die Verhinderung mutmaßlich Hunderter Vergewaltigungen im Jahr – oder das Interesse von Betrieben, einen Grundstoff ohne große Bürokratie in riesigen Mengen zu beziehen? Michael Rath sagt, nach all diesen Jahren sei er immerhin über eines heilfroh: dass Heroin und Kokain für die Industrie uninteressant sind.