Denis und seine Freunde sind mit 17 vor dem Krieg aus Kiew nach Berlin geflüchtet. Wie ist es, allein in einer fremden Stadt erwachsen zu werden?
(Erschienen in der SZ vom 4. Juni 2022, hier als Longread, mit Fotos von Guannan Li)
Vom Krieg bis in die Küche sind es keine hundert Meter. Denis sitzt auf seinem Bett und guckt in sein iPhone, ein Videocall mit Mama. In Kiew strahlt die Sonne, sein Hund Busa sitzt auf einem Stuhl, ein Yorkshire Terrier mit Palmenfrisur. Die Mama fragt ihren Sohn, ob er genug isst? Dann schwenkt sie die Kamera aus dem Küchenfenster: Im Hochhaus gegenüber klafft ein schwarzes Loch. Die Balkonbrüstung ist weggesprengt, ein halbes Stockwerk ausgebrannt. „Eine russische Rakete.“
1200 Kilometer liegen zwischen Denis’ alter Welt in Kiew und seiner neuen in Berlin. Zwischen „der besten, schlausten, schönsten Mama“, seinem Vater, seinen Geschwistern und den Hunden, die er vermisst und die ihn nicht gehen lassen wollten – und dem neuen Leben, für das er sich trotzdem entschieden hat.
Es wirkt an diesem Montag nicht gerade glamourös: Der Rollladen seines WG-Zimmers klemmt auf halber Höhe, nur ein „Supreme“-Poster schmückt die kahle Wand, drüben in der Küche schwimmen drei benutzte Pfannen auf dem öligen Herd.
Denis Bokov ist ein junger Mann, eigentlich ein Junge noch, der eine Entscheidung gefällt hat, die niemandem leichtfallen würde: Gegen seine Familie, gegen sein Land – aber für seine Freiheit.
Die Frage ist: War es die richtige?
700.000 Ukrainer sind seit dem Krieg nach Deutschland gekommen. Die Gastfreundschaft, auf die sie hier treffen, erklärt sich durch die Nähe des Krieges – aber auch dadurch, wer da kommt: Schätzungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zufolge sind 84 Prozent der Geflüchteten Frauen. Von einer Gruppe hört man kaum etwas: jungen Männern. Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren, im sogenannten wehrfähigen Alter, dürfen ihr Land nicht verlassen. Das ist der Grund, warum Denis jetzt „Ich liebe dich, Mama!“ zum Abschied in sein Handy murmelt und sich unauffällig mit dem Handrücken übers linke Auge wischt.
Russische Panzer rollen seit 15 Tagen durch sein Land, als Denis am 10. März die schwerste Entscheidung seines Lebens trifft. Er packt einen Rollkoffer und einen Rucksack, darin ein paar Shirts, seine Lieblingspantoffeln, ein Hoodie, ein Armreif seiner Mutter und eine Armbanduhr seines Vaters. Dazu eine rote Laptop-Tasche und eine Tüte, die ihm seine Mutter noch in die Hand drückt – darin Obst, Kartoffelbrei und Fleisch. So setzt er sich allein in einen Bus nach Berlin. Die Busverbindung hat er selbst rausgesucht, genau wie die Adresse einer Unterkunft für unbegleitete Minderjährige.
Es sind sechs Tage bis zu seinem 18. Geburtstag.
Er hat es eilig. Entweder er geht jetzt, oder er muss im Land bleiben, bis der Krieg vorbei ist. Ob es die Ukraine dann noch geben wird, ob junge Männer wie er zum Kampf gezwungen werden oder nicht, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand. Aber bei der Geschwindigkeit, mit der die Russen vorrücken, steht das Schlimmste zu befürchten.
Irgendwann im April steht er vor meiner Tür. Eine Freundin von mir begleitet ihn. Denis Bokov ist ein Schlaks mit großen Augen, Stupsnase und einem tief hängenden Pony, wie ihn viele Jungs auf Tiktok tragen. Lockere Hose, offener Blick, Bauchtasche schräg über der Brust. Er sieht immer noch aus wie ein Kind.
Die Freundin, sie ist Fotografin, hat ihn bei der Essensausgabe einer Berliner Hilfsorganisation kennengelernt. Zwischen alten Frauen, Müttern und Kindern stand da dieser Junge in der Schlange zur Suppenausgabe. Sie kamen ins Gespräch, er zeigte ihr Videos von seiner größten Leidenschaft: Skateboardfahren. Weil ich ihr schreibe, dass ich noch ein altes Board übrig habe, kommt sie mit ihm vorbei.
Neben Denis stehen Denys und Danil. Seine besten Freunde sind Zwillinge und ein paar Monate jünger als er. Sie sind in derselben Siedlung in Kiew aufgewachsen – und einen Monat kürzer hier als Denis. Als er sie anrief und erzählte, wie leicht die Flucht war, kamen sie nach. Denis nennt sie „meine Familie“.
Er ist der Anführer, das ist schnell klar. Er ist kleiner, aber wirkt mutiger und aufgeweckter als die anderen. Wenn ihm auf Englisch ein Wort nicht einfällt, stöhnt er genervt über sich selbst und rollt die Augen. Außerdem ist Denis der Einzige der drei, der auf dem Skateboard einen Trick namens Hardflip kann. Viel cooler kann man als 18-Jähriger nicht sein.
Familienväter, die Schützengräben ausheben, Bauern, die russische Panzer aus ihren Äckern ziehen: Der Mut der Verzweiflung, mit dem die Ukrainer ihr Land verteidigen, löst seit drei Monaten in aller Welt Beifall und Respekt aus. Was aber ist mit denen, die keine Lust auf Kämpfen haben? Die sich die eigene Zukunft und ihre Träume nicht vom Krieg zerstören lassen wollen? „Wenn ich 50 oder 60 wäre, würde ich so viele Russen töten, wie ich kann“, sagt einer der Zwillinge einmal. „Aber … ich bin erst 17. Ich hab Angst.“
Wer Denis und seine Freunde in diesem Frühsommer ein paar Wochen begleitet, versteht, dass Mut für den Einzelnen auch anders aussehen kann, als zur Waffe zu greifen. Tapferkeit, das kann auch sein, sich als Teenager für seine Zukunft zu entscheiden.
Man muss spontan sein, um mit den drei Jungs Zeit zu verbringen. Vormittags gehen sie auf Schulen, quer über die Stadt verteilt, und lernen mit anderen Ukrainern Deutsch. Nachmittags ändern sich ihre Pläne so spontan wie das Aprilwetter: Mal fahren sie quer durch die Stadt zu einem Skatepark, um dort nach zwanzig Minuten schon wieder aufzubrechen. Mal bleiben sie auf dem Weg zu Freunden irgendwo am Straßenrand stehen, rauchen und zeigen sich vierzig Minuten lang Tiktok-Videos, scheinbar völlig vergessend, dass sie eben noch irgendwohin wollten.
Krieg oder kein Krieg: Es sind Teenager. Getrieben von spontanen Launen und einem beneidenswert fehlenden Gefühl für Zeit. Sie hören die gleiche Musik, tragen die gleichen Klamotten und lachen über die gleichen Memes wie Teenager überall. Die Unbeschwertheit in der Schwere zu finden – vielleicht ist das die wichtigste Superkraft von Jugendlichen.
Das Gemeinschaftshaus Lichtenrade ist ein Siebzigerjahre-Block aus Klinker. Denis teilt sich die ehemalige Hausmeisterwohnung mit einem gleichaltrigen Afghanen. An einem Dienstagmorgen putzt er Zähne, wischt mit einem Tuch die grauen Nikes sauber, dann zieht er die Haustür hinter sich zu und macht sich auf den Schulweg. Auf dem Kopfhörer läuft Kid Cudi, in seinem rechten Auge hängt etwas Schlaf.
Lichtenrade liegt am Stadtrand. Über die vierspurige Straße donnern Lastwagen voll Bauschutt, der „Curry-Point“ an der Ecke hat noch zu. Im Bus 172, dritte Reihe von hinten, checkt Denis Telegram. Er scrollt durch eine Gruppe namens „Meine Ukraine-News“. Anfangs checkte er die Nachrichten den ganzen Tag. Inzwischen zweimal die Woche. Die Schlagzeilen aus der Heimat tun ihm nicht gut.
Als der Krieg ausbricht, studiert Denis seit fünf Monaten Informatik. Im Netz hat er schon ein Jahr zuvor gelesen, dass Berlin die Hauptstadt der europäischen Tech-Szene ist: viele Start-ups, viele Jobs für Programmierer. Ein Paradies für Tech-Nerds wie ihn. Der Plan ist, nach seinem Bachelor nach Berlin zu kommen. Putins Einmarsch beschleunigt diesen Plan – zumindest geografisch. Ob es Denis auch akademisch weiterbringt, ist unklar: In Deutschland muss er wieder zur Schule gehen. Ob er hier weiterstudieren kann, ob überhaupt sein Abitur anerkannt wird? Unklar.
Eine Stunde später tritt Denis in ein gelb gestrichenes Klassenzimmer. Die Hans-Litten-Schule in Charlottenburg hat eine Willkommensklasse für junge Ukrainer eingerichtet. Fünf Mädchen, zwei Jungs lernen Vokabeln zum Thema Wohnen: Altbau, Neubau, Innenhof. Jeder soll seinen Wohnort auf einem Stadtplan einzeichnen, der an der Wand hängt. Als Denis an der Reihe ist, muss er sich hinhocken, so weit unten am Stadtrand liegt seine WG.
Mit den regulären Schülern hat keiner der Geflüchteten Kontakt, auch nach zwei Monaten nicht. „Die sprechen nur Deutsch oder Arabisch“, sagt Denis. Und dass sie ihm ein bisschen unheimlich seien, wenn sie manchmal auf dem Pausenhof etwas zu den Ukrainern rüberbrüllten und dann laut lachten.
In der Pause geht er in die Cafeteria und bestellt eine Cola. Die Verkäuferin an der Ausgabe kennt ihn schon – sie trägt ihn auf einem Klemmbrett ein. Jeder der 18 Geflüchteten hat vier Euro Guthaben am Tag für Essen. Cola gehöre nicht dazu, sagt die Frau unter ihrer Maske und zwinkert Denis zu, „aber ejal, wir schaffen ditt schon!“
In Kiew lebte Denis in einem Hochhaus, in einer Dreizimmerwohnung. Seine Mutter ist Managerin eines Supermarkts, sein Vater Lkw-Fahrer. Mittelschicht, es war immer genug Geld da. Aber seit dem Krieg ist alles anders – der Supermarkt seiner Mutter hat ihr Gehalt um zwei Drittel gekürzt.
Hier in Berlin lebt Denis von 449 Euro im Monat, dem Satz, der auch Hartz-IV-Empfängern zusteht. Davon sind 5,50 Euro am Tag für Essen vorgesehen. Er fährt auch an freien Tagen eine Stunde im Bus zum Hauptbahnhof, wo Ukrainer täglich ein Sandwich umsonst bekommen. Er ist in Berlin ein Außenseiter, nicht nur was die Lage auf dem Stadtplan angeht.
Er sagt es so nicht direkt, aber der Abstieg an den unteren Rand der Gesellschaft schmerzt ihn. Einmal, wir spazieren durch Kreuzberg, wo die Altbaumieten inzwischen teils auf Münchner Niveau liegen, blinzelt er in die Sonne und sagt: „Es ist so schön hier! Diese Häuser! Ich will hier leben!“ Wenn man ihn fragt, wovon er nachts träumt, sagt er ohne zu zögern: „Von einem Lamborghini Huracán.“ Dann ergänzt er: „Ich will Millionär werden, eine Frau haben und eine Tochter.“ Leben würde er dann überall auf der Welt, aber seine Basis wäre in Kiew.
Den ganzen Mai über fiebern die drei Freunde auf einen Termin hin: den Geburtstag der Zwillinge. Ursprünglich war ihr Plan, in Odessa am Strand zu feiern. Jetzt, da Odessa in Trümmern liegt, überlegen sie tagelang, für ein Wochenende nach Barcelona zu fliegen – schließlich sind sie jetzt in der EU!
Eines ist jetzt schon klar: Denis möchte bleiben. Die Zwillinge planen nicht so lang. „Ein Jahr“, sagt Denys einmal, der melancholischere der Zwillinge – „höchstens“. Auch sein Bruder Danil möchte zurück, sobald es geht.
In solchen Momenten wird Denis still, versucht nicht, sie umzustimmen. Er weiß: Für seine Freunde ist Berlin eine Notlösung. Für ihn eine Chance. Und je länger die beiden bleiben, desto länger kann er sein eigenes Heimweh verdrängen.
Es ist Mitte Mai, zum ersten Mal Kurze-Hosen-Wetter. Denis blinzelt leicht verkatert in die Sonne, als er an der East Side Gallery ankommt, dem Stück Berliner Mauer mit den berühmten Graffiti. Er macht inzwischen sonntags manchmal Kulturprogramm, auch wenn die Zwillinge keine Lust haben. Besonders ein Gemälde will er sehen: den „Bruderkuss“ zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker. Die Namen der Männer kennt er nicht, aber er weiß: „Das war der Ort, an dem Ost und West getrennt wurden.“ Er postet ein Foto in seine Story. Die Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit, dazu die Satire über Männlichkeit – das Bild scheint ihn zu berühren.
Auf Instagram begegnet ihm der militärische Männerkult inzwischen täglich. Zwei Bekannte aus Kiew, 18 und 20, haben sich schon im April freiwillig gemeldet. Nun posten sie Fotos in Uniform und werden dafür bejubelt. Sie hätten früher schon ständig von Waffen geschwärmt und Soldatenlieder gesungen, erzählt Denis.
Wenn er darüber spricht, wägt er jedes Wort ab. „Ich will gesund und sicher leben“, sagt er. „Ich will Programmierer werden. Und kein Soldat.“ Schon Monate vor dem Angriff habe er seinen Arzt gefragt, ob der ihm ein Attest ausstellen könne – die zwölfmonatige Wehrpflicht, die seit 2020 wieder für alle Ukrainer gilt, erschien ihm sinnlos. Lieber wollte er schnell sein Studium abschließen. „Guck mich an“, sagt Denis und hebt seine schmalen Schultern. „Ich sehe aus wie 14, ich kenne Waffen nur von ‚Counter-Strike‘!“
Am Hauptbahnhof umarmt Denis seine zwei Freunde und gibt ihnen einen Kuss auf die Wange. Eine Gruppe Teenies steht dort, schaut Rapvideos auf Youtube, einer probiert einen Trick auf dem Skateboard. Der Bahnhofsplatz ist für die jungen Ukrainer der wichtigste Punkt der Stadt. Nicht wegen der Aussicht auf den Reichstag, sondern wegen des weißen Zelts, das seit zwei Monaten da steht. Die Berliner Stadtmission verteilt unter Ukrainern gratis Windeln, Snacks und Kaffee.
Das Zelt ist für die jungen Flüchtlinge der Ort, an dem sie auftanken. Ein bisschen Heimat und Vertrautheit in der Fremde – und dazu zwei Müsliriegel.
„Na, Bruder?“ Der Mann mit dem grauen Schnauzer springt auf und knufft Denis in die Seite. Es ist eine Woche später, Denis tritt nachmittags in ein Büro voller Kartons im ersten Stock des Klinkerbaus. Der Mann mit Bart heißt Suat Erarslan, er ist Sozialarbeiter und betreut die Jugendlichen der Wohngruppe. Erarslan geht mit ihnen einkaufen, bringt sie zum Arzt, meldet sie beim Fußballverein an. Vor Jahrzehnten kam er selbst als Junge allein nach Deutschland, heute ist er ein Bär von einem Mann, herzlich und zupackend, die ideale Vaterfigur für die Geflüchteten.
Jemand wie Denis, sagt er, habe er noch nie gehabt: „Er sieht aus wie ein Kind und spricht wie ein Erwachsener.“ Der Junge sei ehrgeizig und schnell von Begriff. Einmal, sagt Erarslan, habe er beim Jugendamt angerufen, um sich nach einer Finanzhilfe für Denis zu erkundigen – die Antwort: „Die hat Herr Bokov schon vorletzte Woche selbst beantragt.“ Er schüttelt lächelnd den Kopf.
Heute hat Denis zwei Fragen. Erstens: Woher bekommt er einen Ausländerausweis? Sein ukrainischer Personalausweis ist abgelaufen. Zweitens: Kann Danil, einer der Zwillinge, in die WG einziehen? Eines der drei Zimmer ist seit Kurzem frei. Der Sozialarbeiter setzt sich an den Schreibtisch, nimmt das Telefon in die Hand und schiebt Denis eine Packung Kekse rüber.
Wenn man Deutschland eine Weile durch die Augen von Denis und dessen Freunden beobachtet, kann man überrascht sein: Man sieht ein großzügiges Land. Eines, in dem Menschen von sich aus Schwächeren helfen, Augen zudrücken und geduldig sind.
Ein Land, in dem der Sportlehrer die aufgedrehte Willkommensklasse in der Turnhalle zwanzig Minuten lang mit Engelsgeduld und Mallorca-Englisch dazu bewegt, die Handys mal wegzulegen und sich in vier Teams aufzuteilen. In dem die Kellnerin im Café eine Horde Teenager, die nichts konsumieren, so lange unter einem Schirm am Tisch sitzen lässt, bis der Regenschauer vorbei ist. In dem jeder Staatsbürger der Ukraine laut „Massenzustrom-Richtlinie“ ein Jahr bleiben und arbeiten darf – ohne Asylverfahren.
Es ist auch ein Land, bei dem man sich irgendwann fragt, wo diese selbstverständliche Großzügigkeit eigentlich ist, wenn es sich um Geflüchtete aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, Somalia oder Eritrea handelt. Und warum selbst Flüchtlinge aus der Ukraine automatisch weniger Rechte genießen, sobald sie keine ukrainischen Staatsbürger sind.
Ende Mai. Denis hatte gestern ein Date – und wurde versetzt! Er steht in der S-Bahn Richtung Alexanderplatz und grinst etwas verlegen unter seiner Maske. Eine ehemalige Klassenkameradin aus Kiew wollte sich mit ihm treffen. Er hatte Karten gekauft fürs Spionagemuseum. Aber eine halbe Stunde vorher sagte sie ab: „Sie kann einfach keine Termine einhalten.“ Er zuckt die Schultern und merkt nicht, wie ironisch die Beschwerde von jemandem klingt, der zu acht von zehn Verabredungen zu spät kommt. Er ist dann mit einem der Zwillinge gegangen.
Um ihn herum steht eine Gruppe von fünfzehn Ukrainern. Sie tragen Papiertüten, darin Schnapspralinen, Flaschen mit Rum und Orangensaft. Heute ist ein großer Tag: Die Zwillinge werden 18! Die Idee mit Barcelona haben sie vor ein paar Tagen verworfen; keiner der drei hatte bis dahin mal die Kosten überschlagen. Pragmatisch, wie sie sind, steht dann am Geburtstag um 14 Uhr der Plan fest: Treffpunkt in einer Stunde am Alex!
Denys, der ruhigere Zwilling, ist besonders still. Am Morgen hat er mit seiner Mutter telefoniert. Sie gratulierte ihren Söhnen und weinte dann. Am Tag vorher schlugen russische Raketen in Fastow ein, einer Stadt nahe Kiew, aus der die Familie der Mutter stammt. „Ich vermisse zu Hause so sehr“, sagt der Zwilling leise, während die Feiergemeinde vor ihm auf die Rolltreppe strömt. „Ich wollte nicht hier sein. Ich will auch keine Geschenke und keine Feier, während zu Hause Krieg ist.“
Denis findet, er sei reifer geworden in den zweieinhalb Monaten, die er in Deutschland ist. „Unabhängig war ich schon immer“, aber hier sei er gezwungen, sich selbst zu helfen. Als er ganz am Anfang die Waschmaschine in der WG bedienen wollte und die deutschen Begriffe darauf nicht verstand, sei er kurz davor gewesen, seine Mutter anzurufen. Dann habe er die Schalter und Knöpfe fotografiert und mit einer App übersetzt.
Knapp drei Monate nach dem Aufbruch aus seinem alten Leben sagt er: „Die Entscheidung war richtig. Die beste in meinem Leben.“ Auch wenn Danil leider doch nicht zu ihm in die WG ziehen darf – die deutsche Bürokratie.
Der Regen hat gerade aufgehört, als die Gruppe hinter der Marienkirche das Büffet auf einer Mauer ausbreitet: Chips, Donuts, Pappbecher für die ungekühlten Drinks. Den Müll stopfen sie brav in eine Tüte. Vorne am Neptunbrunnen darf man nicht trinken, erklärt einer, aber hier an der Kirche vertreibt sie niemand. Auf ihre Art erobern sie sich gerade ihr eigenes Stück Berlin. Der Fernsehturm ragt in den grauen Himmel, dann zieht hinter einem Kran eine Wolke weg und, tatsächlich, kurz spannt sich ein langer Regenbogen über den Platz. Ein poetischer Moment.
Von den Teenagern bekommt ihn natürlich keiner mit.